Abenteuer Ötzi – nur etwas für Masochisten???

Am 28.08.2005 sollte es wieder soweit sein, der Höllentripp über die 4 Pässe: von SÖlden zunächst ca. 31km bergab, über das Kühtai (1200HM) nach Innsbruck, die Brennerstrasse hinauf (800HM), ins italienische Sterzing runter, über den 2100m hohen Jauffenpass (1200HM) nach St. Leonhard, um schliesslich über das 2500m hohe Timmelsjoch (1800HM) zurück nach Sölden zu gelangen. Der Ötztal-Radmarathon, laut Ausschreibung 235km und 5500HM, die in Wahrheit jedoch „nur“ ca. 5200HM sind .....
2003 war ich zum ersten Mal beim Ötzi gestartet. Bei der Anmeldung Ende 2002 wusste ich, gerade einmal 5 Monate Rennraderfahrung, noch nicht, auf was ich mich da eingelassen hatte. Mein erster Ötzi war die Hölle: Start bei 8°C im strömenden Regen, der bis zum Brenner anhielt, nur dass man sich zwischendurch am Kühtai die Finger schon abgefroren hatte. Den Rest gab mir das Timmelsjoch, wo bei 4°C der Schnee neben der Strasse lag .... Aber nach 10:33h Fahrzeit + 55min Pausen hatte ich es doch geschafft. Nur ca. 1000 der 3000 gemeldeten hatten es bis zum Ziel geschafft. Eigentlich, so sollte man meinen, hätten die Qualen ausreichen müssen, um diesen Wahnsinn nicht noch mal freiwillig auf sich zu nehmen. Aber wahrscheinlich war es dieses wahnsinnige Glücksgefühl im Ziel, es doch geschafft zu haben, dass ich mir bereits am nächsten Tag sicher war, mich für 2004 wieder anzumelden. Schliesslich sollte man diese Tour auch mal im Trockenen gefahren sein.

vor dem Start 2004: Martin, Jürgen, Dave (von links) Jürgen jetzt ist es schon etwas heller

Diesmal hatte ich noch 6 weitere Mitkämpfer dazu überreden können sich anzumelden. Je näher der Termin rückte, um so mehr meiner Kollegen sprangen jedoch wieder ab, schliesslich blieben noch Martin Sachrau und Dave Farmer übrig. Martin ging seinen ersten Ötzi ähnlich an, wie ich im Jahr zuvor, also mit ausreichend Pausen, denn man weiss ja nicht, was da so auf einen zukommt. Mein Ziel war es, die 10h-Grenze zu unterschreiten. Diesmal hatte ich mich zusammen mit Dave und Gabi noch intensiver auf den Ötzi vorbereitet: 2 intensive Trainingswochen in den Schweizer und Südtiroler Alpen, ausserdem meine ersten Rennen im BMW-Radclub. Das Wetter war diesmal ideal, alles lief super – bis zum Fusse des Timmelsjochs. Eigentlich sind es von hier nur noch 53km bis ins Ziel – wenn da nicht diese verdammten 1800HM dazwischen lägen .... Als ob wir uns abgesprochen hätten, hatte ich vor der Abfahrt vom Jauffen Dave getroffen. Doch nun bekam ich Muskelprobleme – ciao Dave. Doch ein paar hundert HM weiter war auch Dave in Problemen. Die Uhr sagt uns, dass wir die 10h jetzt auf jeden Fall schaffen werden, also fahren wir zusammen weiter. Im letzten Tunnel kurz vor dem Pass sage ich noch zu Dave: „verdammt, wenn ich mich daran erinnert hätte, wie hart dieser letzte Anstieg ist, hätte ich mich nicht mehr zum Ötzi angemeldet .....“ Das Ziel erreichen wir beide gemeinsam mit einer Gesamtzeit von 9:41! Auch Martin erreicht nach ca. 11h überglücklich das Ziel.

gemeinsame Zieleinfahrt 2004: Jürgen und Dave geschafft! Dave u. Jürgen Martin nun auch im Ziel

Wer denkt, der Mensch sei lernfähig, und mache Fehler nur einmal – weit gefehlt .... zumindest gilt dies nicht für Ötzi- Teilnehmer. Denn schon wieder einen Tag nach der Tortur beschliessen wir 3, uns noch mal anzumelden. Neuer Start, neue Ziele: diesmal soll bei Dave und mir eine 8, bei Martin eine 9 vor der Gesamtzeit stehen. Diesmal können wir nochmals 3 Mitstreiter dazu gewinnen. Alle sind diesmal hoch motiviert und nehmen zum Teil zusätzlich zum Ötzitraining an den BMW-Radclubrennen teil. Leider müssen diesmal verletzungsbedingt Dave und Jon wenige Wochen vorher auf den Ötzistart verzichten.
Martin hatte sich am intensivsten von uns allen auf seinen Ötzi vorbereitet: 3 Starts mit sehr guten Ergebnissen bei den grossen Radmarathons zum Alpencup, was ihn zum Favoriten unter uns BMW-lern machte.
Alex Hiereth hatte nach seinem Wechsel von der BMW Formel 1 in die BMW AG auch wieder etwas mehr Zeit zum Training, von ihm war einiges zu erwarten bei seinem ersten Ötzi.
Stefan Mehnert wurde während einer letzten Trainingswoche kurz vor dem Ötzi noch von Martin überredet, doch teilzunehmen.
Und ich hatte mich in diesem Jahr auf die Clubrennen konzentriert, und lediglich im August bei der Dolomitenrundfahrt Höhenmeter und lange Distanzen trainiert. Daher war mir klar, dass ich wohl eher meine letztjährige Zeit ins Visier nehmen konnte, als die 9h-Grenze. Ausserdem hatte ich mir nach der 2003-Höllentour vorgenommen, nur noch bei trockenen Bedingungen den Ötzi zu fahren.....

Natürlich fängt es am Abend vor dem Rennen an, heftig zu regnen. Doch die Tiroler Wetterfeh garantiert uns, dass in der Früh lediglich die Strassen etwas feucht sein werden, und ab Kühtai für den Rest der Strecke die Sonne herauskommen werde – also ideales Radlwetter!
Tatsächlich hatte es in der Früh aufgehört zu regnen. Die Temperatur um 6:30 am Start mit 12°C ist ok, und mit Aussicht auf besseres Wetter sind wir alle guter Dinge. Wenn mir nur die verdammten Nudeln vom Vorabend nicht wie ein Stein im Magen liegen würden ....
Auf den ersten 31km bis Ötz schaffe ich auf regennasser Fahrbahn zwar mit einem Schnitt von 48,65 km/h die 96. Zeit unter den 3500 Teilnehmern, aber verliere bereits 2min ggü. 2004. Eine weitere Minute kommt zum Kühtai hinauf dazu, wo es schliesslich auch richtig anfängt zu regnen – nicht einmal auf die Tiroler Wetter-Fehen ist Verlass.... Der strömende Regen begleitet uns bei einem Schnitt von über 26 km/h von Innsbruck hinauf bis zum Brenner. Martin hatte mich am Kühtai schon überholt, und nun zum Brenner rauf schon wieder, irgendwo muss ich ihn auf der schnellen Abfahrt vom Kühtai überholt haben..... Bilanz bis Brenner: 123km, ca. 2000HM, Schnitt 29,2 km/h, bisher alles im Nassen gefahren und bereits 8min Rückstand auf meine letztjährige Zeit. Bisher noch keine Standzeit, und da Gabi und Steffi uns am Brenner anfeuern und verpflegen verwerfe ich auch ganz schnell den Gedanken, mich einfach in den BMW zu setzen und mit den Mädels zurück nach Sölden zu fahren.
Auf der kurzen Abfahrt nach Sterzing wird die Strasse zum ersten Mal an diesem Tage trocken und eigentlich möchte ich die Zeit nutzen, mich vor dem nächsten harten Anstieg zum Jauffen etwas zu stärken, denn bisher hatte ich wegen meinen Magenproblemen viel zu wenig gegessen und getrunken. Aber viel geht nicht, sofort bekomme ich Magenkrämpfe.
Als ich in den Berg reinfahre frage ich mich, warum ich eigentlich nicht ins Auto eingestiegen bin, denn da waren sie wieder meine 3 Probleme: Krampf im Magen, im rechten und im linken Oberschenkel ....und dann, schon zum dritten Mal in den letzten 4 Stunden von hinten:“Hallo Jürgen, wie geht’s, alles fit?“ Martin ist schon wieder im Anflug, geht an mir vorbei und sieht noch richtig locker aus. Für mich ist klar, dass er heute zwischen 9 und 9:30h fahren kann, und ich überlege, ob es wohl irgendwo eine Rennrad-Downhill-Meisterschaft gibt, denn das scheint mir wesentlich besser zu liegen als diese verdammten Anstiege .... Doch ca. 1:15h später, 2 Kurven vor dem Gipfel sehe ich Martin stehen, halb verhungert an einem Riegel nagend: der Hungerast hatte ihn erwischt. Ich kämpfe mich noch über den Gipfel, ein paar Kilometer hinunter zur nächsten Labe. Wenigstens hat sich mein Magen inzwischen beruhigt, so dass ich inzwischen schon ein paar Powergels zu mir nehmen konnte. Doch die Beinkrämpfe sind wohl ein Resultat meiner Dehydrierung. Bis hierher habe ich nun 12min auf letztes Jahr verloren. Aber inzwischen kämpfe ich eh nur noch ums „überleben“, die Zeit wird heute zweitrangig sein.
Die kurvenreiche Abfahrt nach St. Leonhard macht normalerweise super Spass, zumal die Strasse jetzt noch gesperrt ist, und man es auch in den unübersichtlichen Abschnitten richtig laufen lassen kann. Aber momentan, wo nun die Belastung komplett raus ist, machen meine Oberschenkelmuskeln wieder komplett zu und so habe ich nebenher allerhand zu tun, um meine Muskulatur zu lockern. Ich versuche den Gedanken an den nächsten Anstieg noch völlig zu verdrängen, denn vor mir liegen nun die härtesten 1800HM meines Lebens. Ich kann mir momentan nicht vorstellen, wie ich tretend noch einen Kilometer geschweige denn diesen Höhenunterschied bewältigen soll. Zum Glück beginnt der Anstieg ganz gemächlich mit ca. 4-5%, so dass man mit dem kleinen Gang schön langsam die Muskulatur erst mal wieder locker fahren kann. Und erstaunlicherweise geht es wieder weiter. Allerdings brauche ich am heutigen Tag 5 Pausen um zwischendurch meine Beine zu lockern und verliere dabei ca. 16min. Martin hat mich seit dem Jauffen trotzdem immer noch nicht wieder überholt, anscheinend hat er doch auch ein ziemliches Problem bekommen. Bei der Durchfahrt durch den letzten Tunnel am Timmelsjoch denke ich mir wieder: war es im letzten Jahr nicht schon hart genug, warum bin ich jetzt eigentlich schon wieder hier? Aber gleichzeitig weiss ich, dass es nur noch wenige Meter bis zum Gipfel sind. Danach kommt nach einer kurzen Abfahrt durch ein paar Serpentinen ein letzter kleiner Anstieg von 125HM vor der Mautstelle. Meine Zeit bis zum Gipfel: 9:22h – hoppla, wenn ich jetzt noch mal richtig reinsteige und meine letzten Kräfte mobilisiere, dann sind die 10h doch noch möglich. Nur Schade, dass der dichte Nebel nur eine Sicht von max. 20-30m zulässt. So wird mir meine Eile in einer Kehre auch fast zum Verhängnis. Nach nur 2 Abfahrten hier in den letzten 2 Jahren sollte man sich eben doch nicht zu sehr auf seine Streckenkenntnis verlassen. Statt eines längeren geraden Stückes steht plötzlich eine Leitplanke vor mir ... geht doch nichts über Campa-Carbonbremsen! Der Nebel löst sich nach der Mautstation zum Glück auf, jetzt kann endlich Gas gegeben werden. Ein paar einzelne Fahrer sammle ich noch auf, vereint und mit abwechselndem Windschatten geht es in den paar Flachstücken doch viel einfacher voran. Die Zeit läuft mir dennoch davon, das wird verdammt knapp. Bei der Durchfahrt durch Sölden Richtung Ziel kommen mir auch noch ein paar Autos in die Quere, doch dann ist es endlich geschafft, die magische 10h-Grenze jedoch knapp verfehlt: 10:00:24.

Martin kommt kurz nach mir ins Ziel, 10:03:52, dann schon Alex bei seiner Premiere mit hervorragenden 10:08:32, und schliesslich ebenfalls überglücklich wie wir alle Stefan in 11:41:28.

Und was habe ich aus 3 mal Ötzi gelernt?
- das erste Mal ist doch am schönsten
- egal, welche Übersetzung du dabei hast, am Timmelsjoch nimmst du doch immer die kleinste die du hast
(2003: 3-fach 53/42/30 & 13-29, 2004: 2-fach 53/39 & 13-29, 2005: 2-fach compact 50/34 & 13-29)
- die Bezeichnung „Masochist“ muss für ötziteilnehmer neu definiert werden
- mir langt es jetzt erst mal, 2006 wird ohne mich stattfinden müssen ... (?)

http://www.oetztaler-radmarathon.com/