Milano - Sanremo 2007, das Klassikerrennen für Amateure

Die Vorbereitung

Jedem, der sich mit Radsport beschäftigt, ist der Klassiker Milano - Sanremo ein Begriff. Mit über 290 Kilometern ist es das längste Eintagesrennen im Profi-Radsport und wird zu den fünf sogenannten Monumenten des Radsports gezählt. Der wichtigste und berühmteste Klassiker Italiens findet für die Radprofis alljährlich Ende März statt und hat daher den Beinamen La Primavera (Fahrt in den Frühling) bekommen. La classicissima, wie das Rennen auch respektvoll genannt wird, fand erstmals 1907 statt.

Nach 3 Teilnahmen beim Ötztaler Radmarathon (2003, 2004, 2005) suchte ich im Winter 2006/2007 nach einer neuen Herausforderung. Milano - Sanremo schien genau das Richtige für mich zu sein: lange Distanz und vor allem wenige Höhenmeter mit geringen Steigungen!

Die Homepage des Veranstalters gibt leider sehr wenig Informationen her. Zum Glück gibt es jedoch das Internet, und auf den beiden Seiten von radsportscout.de von Ingo Kruck, und jaggger.de (H.D. Jäger, Concordia München) fand ich die hilfreichsten Informationen zum bevorstehenden Rennen.
Der milde Winter und 2 Trainingslager auf Mallorca und in Cervia im März bzw. April 2007 ließen eine hervorragende Vorbereitung auf das Rennen am 10.06.2007 zu, so dass mein Fahrradtacho Anfang Juni schon über 6000km anzeigte - ich war mir sicher, das würde reichen, zumal ich schon etliche Touren jenseits von 150km gemacht hatte. Wobei 295km natürlich nochmal ein ganzes Stück weiter sein würde ... aber schlimmer als der Ötzi konnte es eh kaum werden, zumal ich mit einer Fahrzeit zwischen 8h und 8:30h rechnete.

Die Anreise

Direkt vor dem Rennen hatte ich noch eine Woche Urlaub in Riva del Garda mit Gabi, Birgit, Jan und Meike eingeplant, die aus lockerem Radln, viel Schlafen und gutem Essen bestand. Von dort war die Anreise am Samstag 09.06. nach Mailand nur noch ein Katzensprung und somit sehr stressfrei.
Um ein Hotel in Mailand in der Nähe des Startplatzes in Rozzano hatte ich mich leider zu spät gekümmert, so dass wir ca. 10km entfernt untergebracht waren. Die Concordianer hatten da aus den beiden letzten Jahren schon mehr Erfahrung, und sich mit 10 Personen wieder in "ihrem" Hotel direkt in Rozzano einquartiert. Von der Erfahrung der Jungs zum Rennverlauf wollte ich natürlich auch noch etwas profitieren, so dass wir uns noch am Sa. Abend in der Pizzeria Marianna Cafe trafen. Ein paar der Jungs kannte ich ja schon von diversen BMW-Clubrennen, und ihre Tipps waren später wirklich sehr hilfreich - eine wirklich nette Truppe!

Das Rennen

Der Startschuss sollte 7:00 Uhr erfolgen. Das bedeutete für uns aufstehen gegen 4:00 Uhr und ausgiebiges Frühstück - für die Zutaten hatten wir zum Glück vorsichtshalber selber schon am Gardasee gesorgt, so dass es meine gewohnten Schinken- und Salamisemmeln gab - Müsli ist nix für mich, schon gar nicht, wenn knapp 300km auf dem Rennrad bevorstehen ...
6:15 Uhr dann Treffpunkt mit den Concordianern an deren Hotel und gemeinsames Einradln zum Startplatz. Gabi verließ mich hier, um mit dem Auto zum Turchino (km 140) voraus zu fahren. Mein Plan war, keine Verpflegungsstelle anzufahren, sondern mit 3 Flaschen (2 in den Flaschenhaltern, 1 im Trikot) bis zum Turchino durchzufahren, wo Gabi mich dann mit 3 neuen Flaschen versorgen sollte. Danach sollte Gabi versuchen, mit dem Auto möglichst in meiner Nähe zu sein, um mich im Falle einer Panne und auch mit neuer Verpflegung relativ schnell versorgen zu können.
Da der Weg bis zum Fuße des Turchino sehr weit (120km) und flach ist war schon klar, dass das Peloton bis dahin auf jeden Fall zusammen bleiben würde. Daher war es auch nicht weiter schlimm, dass ich zusammen mit den Concordianern nicht ganz vorn sondern eher im zweiten Drittel der Startaufstellung stand - dachte ich zu diesem Moment zumindest. Doch die Fahrt nach erfolgtem Startschuss durch das verwinkelte Rozzano erinnerte mich sofort an ein Kriteriumsrennen. Wir hatten gerade mal die ersten der 295km in Angriff genommen, und schon mussten wir weiter hinten mit harten Antritten ständig bis auf über 50km/h beschleunigen, um Löcher zuzufahren. Das war ja ein toller Anfang, wie sollte ich auf diese Art denn 295km durchstehen??? Zum Glück entspannte sich die Situation außerhalb der Ortschaft dann erst mal.
Die gesamte Strecke ist zwar nicht gesperrt, aber unser Tross wurde von zahlreichen Motorradfahrern begleitet, die den entgegenkommenden Verkehr am Streckenrand anhielten, so dass die komplette Straßenbreite vom Peloton eingenommen werden konnte. Wer jedoch schon einmal in einer größeren Gruppe mit mehreren hundert Radfahrern geradelt ist weiß, dass Radfahrer in solch einer Situation immer versuchen, wirklich die komplette Straßenbreite zu nutzen, was bei Verengungen (z.B. durch Autos, Verkehrsinseln oder in Ortschaften) zu Bremsmanövern und sehr haarigen Situationen führt. Vorausschauende und konzentrierte Fahrweise war also angesagt. Trotzdem gab es in den ersten drei Stunden (118km, 39.1 km/h Schnitt) schon einige Stürze, aus denen ich mich zum Glück heraushalten konnte.
Nach ca. 3:15h mussten wir mit dem gesamten Peloton an einem geschlossenen Bahnübergang für ca. 3min anhalten, was wohl so ziemlich alle Teilnehmer zu einem "Boxenstopp" veranlasste - für mich war es der einzige auf der langen Strecke ... Und nun begann auch so langsam der Anstieg zum 532m hohen Turchino. Jetzt musste ich unbedingt versuchen, mich vorn zu platzieren, damit ich nach dem Turchino eine gute Gruppe erwische. Etwa 10-20m vor mir hatte ich schon die auffälligen gelb-roten Trikots von ein paar Concordianern erspäht. Die Beine fühlten sich super an und ich konnte tatsächlich am Anstieg einige Fahrer überholen - bis ich auf das kleine Kettenblatt meiner Compactkurbel schalten musste - und die Kette runtersprang ... (den normalen Umwerfer habe ich dann übrigens nach dem Rennen gegen einen Compact-Umwerfer ausgetauscht!). Ich konnte mich zwar wieder ganz in die Nähe der Concordianer herankämpfen, aber wegen eines Sturzes in einer engen Kehre kurz vor dem Gipfel kam die gesamte Gruppe dahinter zum totalen Stillstand - und schon war ein kleines Loch gerissen ...
Gabi stand für mich super sichtbar nach dem Tunnel am Turchino: 3 Flaschen tauschen, Banane einstecken, und schon ging es hinunter. Der Zeitverlust durch den Stopp war gering und durch meine guten Abfahrfähigkeiten konnte ich zahlreiche Fahrer wieder überholen. Leider haben einige aber auch zu viel riskiert. Ingo Kruck von radsportscout.de war einige hundert Meter vor mir und riskierte in einer unübersichtlichen Linkskurve alles und kollidierte mit einem entgegenkommenden Mercedes. Das Bild des regungslos daliegenden Fahrers war nicht schön. Aber um es vorweg zu nehmen: Hr. Kruck kam mit einem gebrochenen Arm und gerissenen Bändern im Bein davon. Eigentlich hätte jedem Teilnehmer klar sein sollen, dass die Strecke nicht abgesperrt ist, und man zu jeder Zeit mit Hindernissen und Autos rechnen muss - aber das ist eine andere Geschichte ...

am Startplatz: Hans-Dietmar und Lupo Concordianer im Peloton auf dem Weg durch die Poebene Lupo

Unten in Genua hatte ich zu Hans-Dietmar aufgeschlossen und es bildete sich schnell eine kleine Gruppe, die allerdings nicht besonders gut lief. Ich hielt mich erst mal bei der Führungsarbeit etwas zurück, da ich überhaupt noch nicht einschätzen konnte, wie ich meine Kräfte für die restlichen 140km einteilen musste. Schließlich hatten wir jetzt am Meer entlang noch einige kurze Anstiege vor uns, und auf den letzten 35km den Capo Berta (130HM), die Cipressa (240HM) und zum Schluss den Poggio (162HM).
Die Gruppe lief irgendwie immer schlechter, und von den Italienern wollte keiner Führungsarbeit leisten. Mit in unserer Gruppe waren die Concordianer Hans-Dietmar, Bernd und Tomarx. Inzwischen hatten wir einen Großteil der Führungsarbeit übernommen, und die faulen Italiener hingen bei uns im Windschatten. Wenn wir aus der Führung gingen, fiel das Tempo beim starken Gegenwind von 35-40km/h immer gleich auf 30km/h ab. Ca. bei km 230 war es uns zu blöd und wir starteten zu viert einen Ausreißversuch. Mit unserer Vierermannschaft kamen wir sogar ganz gut von der Gruppe weg, doch Tomarx musste nach ein paar Capos seiner Aufholjagd nach dem Turchino Tribut zahlen und konnte nicht mehr ganz mit uns mithalten. Nach ca. 22km hatte uns die Gruppe wieder eingeholt. Da nun noch ca. 40km und 3 harte Anstiege vor uns lagen, klemmten wir uns nun erst einmal für ein paar Kilometer in den Windschatten.
Leider hatte es Gabi nicht geschafft, nach dem Turchino wieder zu mir nach vorn zu fahren, da sie von zahlreichen großen Radgruppen aufgehalten wurde. Also nahm sie zwischenzeitlich den Weg über die Autobahn, um vor der Cipressa wieder vor mir an der Strecke zu sein. Allmählich brauchte ich auch unbedingt neue Trinkflaschen, denn die 3 vom Turchino neigten sich langsam dem Ende. Zum Glück hatten wir auf unserem Ausreißversuch von italienischen Helfern an der Strecke ein paar Wasserflaschen gereicht bekommen.
Der Capo Berta bei ca. km 260 ist der steilste Anstieg auf der ganzen Strecke, mit ca. 10% Steigung. Die Beine fühlten sich immer noch gut an, und wir hielten uns ganz vorn in der Gruppe. Ca. 20km vor dem Ziel beginnt der Anstieg zur berühmten Cipressa, wo bei den Profis oft die Entscheidung fällt. Also griffen auch wir hier an. Hans-Dietmar, Bernd und ich waren noch zusammen, Tomarx hatte bereits am Capo Berta abreißen lassen müssen, und Bernd kämpfte bereits mit Krämpfen. Gabi war inzwischen auch hier und verpflegte mich und Hans-Dietmar aus dem Auto mit einer frisch gefüllten Flasche - wie bei den Profis! Dazu noch ein Gel als Stärkung für die letzten Kilometer. Die Gruppe riss jetzt ziemlich auseinander und wir konnten das Tempo bei der Abfahrt bestimmen. Ein paar einzelne Fahrer hatten wir auf den letzten Kilometern schon aufgefahren. Jetzt waren nur noch 3.7km und 136HM im Anstieg zum Poggio vor uns. Die Abfahrt vom Poggio nach Sanremo hinunter ist den Profis vorbehalten, wir Amateure sind am Gipfel am Ziel. Hans-Dietmar schlägt ein unglaubliches Tempo an, überholt bis zum Gipfel noch etliche Konkurrenten und nimmt mir noch 29 Sekunden ab, so dass am Ende noch 12 Plätze zwischen uns liegen. Bei mir war im Endspurt nicht mehr drin, aber mit Platz 77 in 8:22:31h (knapp 33min hinter der Spitze) bin ich überglücklich. Mein Tacho zeigt 295km und 1653 Höhenmeter an.

Nach dem Rennen

Im Ziel machte sich dann auch ganz schnell ein Hungergefühl bemerkbar - wahrscheinlich waren 2 Bananen, 4 Riegel und 3 Gels doch zu wenig. Am Poggio hätte ich wohl noch ein Gel vertragen. Also ging es nun erst mal zur abschließenden Pastaparty nach Sanremo runter, und dann mit dem Auto zurück nach Mailand, wo wir unser Hotel für 2 Nächte gebucht hatten, um am Montag dann schneller heim zu kommen.
Das Erlebnis war grandios, eine der berühmtesten Radstrecken des Profikalenders gefahren zu sein, und ich war bei weitem nicht so fertig wie bei meinen Ötzi Teilnahmen. Im kommenden März werde ich das Profirennen jedenfalls im Fernsehen aufmerksam verfolgen und mich mit Sicherheit an einige Szenen aus meinem Rennen erinnern. Vielleicht lerne ich ja auch noch etwas hinsichtlich Taktik für meine nächste Teilnahme dazu.
2008 wäre ich gern wieder dabei, falls mich Gabi unterwegs wieder verpflegt. Und vielleicht finden sich ja noch ein paar Mitstreiter, so dass wir beim nächsten Mal einen Fluchtversuch bis zum Schluss durchziehen können. Am 01.06.08 um 7:00 Uhr fällt der Startschuss!

am Meer entlang Auffahrt zum Poggio die Concordianer im Ziel

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GoogleMaps Karte der Strecke